URSULA HEMETEK UND DIE ETHNOMUSIKOLOGISCHE MINDERHEITENFORSCHUNG
Ursula Hemetek ist eine einflussreiche Persönlichkeit im derzeitigen internationalen ethnomusikologischen Diskurs. Ihre Reputation beruht insbesondere auf ihrer Pionierrolle in der Schaffung eines neuen Feldes innerhalb des Faches: der Minderheitenforschung. Ihr Einfluss in der Entwicklung von Zugängen, Methoden und Theorien in der Erforschung marginalisierter Gruppen und ihrer Musik wirkte auf das Fach an sich zurück. Durch die Etablierung einer internationalen Studiengruppe konnten diese Diskurse international wirksam werden. Ihre Ernennung zur Generalsekretärin der größten internationalen Vereinigung des Faches (International Council for Traditional Music) im Jahr 2017 unterstreicht ihre richtungsweisende Position in der Ethnomusikologie.
Die Ethnomusikologie beschäftigt sich mit Musik im sozialen Zusammenhang, ihrem Gebrauch durch Gemeinschaften/Individuen sowie der Bedeutung, die Musik für diese Personen hat. Das Fach umfasst alle Musiken der Welt – die nordindische Kunstmusik genauso wie die Musik der Burgenlandkroat_innen. Wichtigste Methode der Ethnomusikologie ist die Feldforschung, die im empirischen Bereich die Grundlage für wissenschaftliche Ergebnisse darstellt. In der Feldforschung, die entweder dokumentarisch oder explorativ ausgerichtet ist, werden Ton- oder Videodokumente erstellt. Beide Ausrichtungen sind unverzichtbare und einander ergänzende Teile einer umfassenden Betrachtung von Kulturen im Allgemeinen und Musikkulturen im Besonderen. Die dokumentierten Menschen sind somit die wesentlichsten (Kooperations-)Partner_innen der Forschenden.
Musik ist wirkmächtig, sie kann der Identifikation ebenso wie der Repräsentation dienen, sie kann instrumentalisiert werden und insofern ist sie ein wesentlicher gesellschaftspolitischer Faktor, sowohl für die Dominanzgesellschaft als auch für marginalisierte Gruppen.
Ursula Hemetek hat sich dafür entschieden, sich mit der Musik von marginalisierten Gruppen zu beschäftigen und zwar vor allem in Österreich. In ihrer Forschung zur Musik der Roma, die 1988 begann, wurde sie Zeugin der Vorurteile und der Diskriminierung, der ihre Forschungspartner_innen ausgesetzt waren. Das Wissen über Roma war damals in der österreichischen Öffentlichkeit quasi nicht vorhanden und von äußerst negativen Vorurteilen geprägt. Von Bedeutung war für Ursula Hemetek deshalb auch die Entwicklung von gesellschaftspolitisch wirksamen angewandten Umsetzungsmöglichkeiten der Forschungsergebnisse, wie öffentlichen Kulturpräsentationen, Konzertauftritten von Romamusiker_innen, Symposien, Publikationen, Öffentlichkeitsarbeit. Dieses Prinzip ermöglicht eine Mitgestaltung von gesellschaftspolitischen Diskursen, denn es räumt den Protagonist_innen die Macht zu „sprechen” oder sich musikalisch auszudrücken ein.
In Diskurse eingreifen zu können setzt eine genaue Kenntnis derselben in dem Land, in dem die Forschung stattfindet, voraus. Diese wiederum ermöglicht es, forschend reagieren zu können. Die Gruppen, mit denen sich Ursula Hemetek beschäftigte, waren jeweils jene Gruppen, wo auf „burning problems” zu reagieren war. Der urbane Raum als ein von Migration geprägtes musikalisches Feld stellt einen wesentlichen Ansatz dar. Migrant_innen aus der Türkei als Projektionsfläche der Islamophobie werden zum Thema, ebenso wie die Fluchtbewegungen der letzten Jahre.
Internationale Vernetzung ist ein selbstverständliches Tool bei derartigen Forschungen. Da es sich in all diesen Ansätzen um sehr unterschiedliche Musikkulturen handelt, ist die Zusammenarbeit nicht nur mit den dokumentierten Forschungspartner_innen sondern auch mit ethnomusikologischen Spezialist_innen für die einzelnen Kulturen ein wesentlicher Ansatz. Die Kenntnis der verschiedenen involvierten Sprachen ist genauso wichtig wie die Kenntnis der Musikkulturen.
Für Ursula Hemetek ist Ethnomusikologie eine partizipative Wissenschaft mit gesellschaftspolitischer Verantwortung. Sie hat sich daher dafür entschieden, mit dem Wittgenstein-Preis ein internationales Forschungszentrum für ethnomusikologische Minderheitenforschung an der mdw zu gründen. Das MMRC – Music and Minorities Research Center (Wittgensteinprojekt) soll der Nachhaltigkeit verpflichtet sein, und Nachhaltigkeit in der Wissenschaft bedeutet u.a. Nachwuchsförderung. Die Ansiedlung an einer Universität ist ein weiterer Faktor, der Nachhaltigkeit garantieren soll. Wissenschafter_innen in unterschiedlichen Stadien ihrer wissenschaftliche Karriere aus verschiedenen Teilen der Welt können so ihre Themen und Forschungsprojekte einbringen und gemeinsam an der Weiterentwicklung der Minderheitenforschung in der Ethnomusikologie sowie an Modellen der gesellschaftspolitischen Anwendung arbeiten und somit die Macht der Musik für die Umsetzung einer gerechteren Gesellschaft nutzen.