Music in the experience of forced migration from Syria
to the European Borderland
Ein Forschungsprojekt am MMRC (Abgeschlossen)
Projektbericht:
Das im Bereich der Ethnomusikologie angesiedelte Dissertationsprojekt “Music in the Experience of Forced Migration from Syria to the European Borderland” untersuchte die Rolle der Musik im Leben syrischer Zwangsmigrant*innen vor dem Hintergrund des Krieges in Syrien und der Flüchtlingsbewegung nach Europa im Jahr 2015. Im Fokus standen dabei Begegnungen zwischen syrischen Zwangsmigrant*innen und europäischen Gesellschaften sowie musikalische Reaktionen auf Erfahrungen mit Konflikten, Vertreibung, entmenschlichender Flüchtlingspolitik und polarisierten öffentlichen Diskursen über Migration.
Die Forschungstudie untersuchte dabei drei zentralen Fragen: Welche Musik wird von syrischen Zwangsmigrant*innen in Europa gespielt? Wie gewinnt diese Musik während der Flucht und im Kontext der städtischen Neuansiedlung an Bedeutung? Welche soziopolitischen Implikationen hat diese Musik angesichts der Tatsache, dass Flüchtlinge in Europa einem hohen Diskriminierungsrisiko ausgesetzt sind?
Die theoretische Grundlage des Projekts stützte sich auf eine Vielzahl von Perspektiven, darunter ethnomusikologische und historische Forschungen zur syrischen Musik, urbane Ethnomusikologie, Musik- und Minderheitenforschung, Anthropologie der Zwangsmigration, Kulturwissenschaften, Gender Studies, kritische Staatsbürgerschaftsforschung und digitale Medienwissenschaften. Musik im Kontext der Zwangsmigration wurde dabei als Form der Handlungsfähigkeit sowie als Medium kultureller, sozialer und politischer Verhandlungen betrachtet. Durch sie konnten sich marginalisierte und stigmatisierte Flüchtlinge als potenzielle Bürger*innen verorten. Aus einer intersektionalen Perspektive untersuchte die Forschung außerdem, wie Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und Klasse den Zugang zu musikalischer und sozialer Teilhabe prägen, und berücksichtigte dabei die Auswirkungen der Machtverhältnisse zwischen Mehrheits- und Minderheitsgruppen auf den musikalischen Ausdruck. Eine reflexive und angewandte ethnomusikologische Perspektive leitete das gesamte Projekt. Sie betonte das Potenzial der ethnomusikologischen Forschung, das interkulturelle Verständnis zu fördern und die Forderungen und Erfahrungen von Geflüchteten einem breiteren Publikum – darunter Pädagog*innen, Kulturpolitiker*innen, soziopolitische und kulturelle Initiativen sowie Basisaktivist*innen – näherzubringen.
Die Forschung basierte methodisch auf ethnografischer Feldarbeit an mehreren Standorten, bei der teilnehmende Beobachtung, Interviews und digitale Ethnografie kombiniert wurden. Die Feldforschung fand zwischen 2016 und 2017 in Thessaloniki (Griechenland) sowie zwischen 2019 und 2023 in Wien (Österreich) statt. Diese beiden Orte stehen für unterschiedliche Phasen der Migration. Thessaloniki als Teil der Außengrenze Europas bot einen Kontext für die Reise von Geflüchteten, der durch vorübergehende Unterbringung und eingeschränkte Mobilität in Lagern gekennzeichnet war. Wien stellte hingegen ein städtisches Umfeld für Neuansiedlung und langfristigen Aufenthalt dar. Die Datenanalyse integrierte Feldbeobachtungen und Interpretationen öffentlicher Musikaufführungen mit der vorhandenen Literatur zu syrischer Musik und Migration. Dadurch wurde ein vergleichendes Verständnis dafür ermöglicht, wie Musik unter sich verändernden sozialen und politischen Bedingungen funktioniert. Daraus ergab sich eine dreiteilige Erzählung, die von Syrien vor und während des Konflikts auf der Grundlage historischer Belege über die Flüchtlingsreise bis hin zur Neuansiedlung auf der Grundlage ethnografischer Feldforschung reichte.
Das Projekt begann mit einer Nachzeichnung der Entwicklung der modernen syrischen Musik von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis zum Aufstand von 2011. Dabei wurden die miteinander verflochtenen künstlerischen und politischen Dimensionen hervorgehoben. Die Musik in Syrien spiegelte schon lange die Spannung zwischen nationaler Kulturpolitik und den Zensurpraktiken des autoritären Staates einerseits sowie individueller Kreativität und Meinungsfreiheit andererseits wider. Der Bürgerkrieg und die darauffolgenden Vertreibungen zerstörten die etablierten musikalischen Infrastrukturen, förderten jedoch gleichzeitig neue kreative Praktiken im Exil. Diese neuen Ausdrucksformen interpretierten nationale und regionale Traditionen neu und thematisierten zugleich die Erfahrungen und Sehnsüchte einer zerstreuten syrischen Gesellschaft. Anhand von zwei Fallstudien wurden diese Veränderungen näher untersucht.
Die erste Fallstudie, die zwischen 2016 und 2017 in Thessaloniki durchgeführt wurde, konzentrierte sich auf die musikalischen Ausdrucksformen syrischer Migrant*innen während Protesten in Flüchtlingslagern und städtischen Umgebungen. Öffentliche Auftritte, bei denen Shaʿbiyyah-Volksmusik, Ṭarab-Stadtmusik und Protestlieder aus dem Aufstand von 2011 dargeboten wurden, dienten sowohl als emotionale Unterstützung als auch als sozialer Widerstand gegen die restriktive und entpolitisierende Natur der EU-Grenzpolitik. Die Erfahrungen in diesen Flüchtlingslagern spiegelten sich später in neuen kreativen Projekten wider, darunter elektronische Tanzmusik. Viele dieser musikalischen Darbietungen wurden von den syrischen Flüchtlingen selbst dokumentiert und über soziale Medien geteilt. Dadurch traten sie mit einem Publikum in ganz Europa und Syrien in Kontakt und schufen digitale Netzwerke der Solidarität und Sichtbarkeit. Auf diese Weise ermöglichte die Musik „Aktionen der Staatsbürgerschaft“, durch die Flüchtlinge ihre Rechte in Räumen geltend machten, in denen die formale Staatsbürgerschaft ausgesetzt war.
In der zweiten Fallstudie, die zwischen 2015 und 2023 in Wien durchgeführt wurde, liegt der Fokus auf der wachsenden musikalischen Präsenz syrischer Migrantenmusiker*innen und ihren künstlerischen Projekten in der Stadt. Ein zentrales Beispiel ist das 2015 gegründete „NAI Oriental Orchestra and Choir“, das syrische Volksmusik, arabische klassische Ṭarab und zeitgenössisches arabisches Repertoire aufführt. Das Ensemble wurde zu einer wichtigen Plattform für den Aufbau von Gemeinschaften und für das berufliche Engagement. Es ermöglichte syrischen Musiker*innen, ihr kulturelles Erbe in Wiens überwiegend westlichem Musikumfeld zu bewahren und über politische und religiöse Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Über dieses Kollektiv hinaus verfolgten syrische Berufsmusiker*innen, die als Asylsuchende nach Wien gekommen waren, verschiedene Projekte – von orientalischem Jazz über kurdische und arabische Shaʿbiyyah-Musik bis hin zu zeitgenössischer arabischer Musik. Obwohl sie mit den etablierten Erwartungen der österreichischen Öffentlichkeit hinsichtlich ihrer Herkunft und ihres Status als Flüchtlinge konfrontiert waren, setzten sich diese Künstler*innen mit Themen wie Erinnerung, kultureller Identität, dem Krieg in Syrien und dem interkulturellen Zusammenleben in der Stadt auseinander. Dabei vermittelten einige Werke explizit oder subtil Visionen einer freien und demokratischen Zukunft Syriens. Eine bemerkenswerte Initiative war das Projekt „Dabke-Dilan“, bei dem syrisch-arabische und kurdische Migrant*innen gemeinsam mit in Österreich geborenen Österreicher*innen in öffentlichen Tanzaufführungen populäre/volkstümliche Shaʿbiyyah-Musik präsentierten. Dadurch konnten Erfahrungswerte für die Neukonzeption und Überwindung ethnischer, kultureller, geschlechtsspezifischer und klassenbezogener Grenzen im öffentlichen Raum Wiens gewonnen werden.
In beiden Fallstudien wurde deutlich, dass die Musik syrischer Migrant*innen inmitten der polarisierenden Debatte um Migrations- und Asylpolitik in Europa einen bedeutenden gesellschaftspolitischen Einfluss in verschiedenen Bereichen hatte – von Flüchtlingslagern und öffentlichen Räumen bis hin zu Konzertsälen und digitalen Plattformen. Die musikalischen Ausdrucksformen umfassten ein breites Spektrum an Genres und hatten für syrische Migrant*innen unterschiedlicher sozialer, geschlechtlicher und kultureller Herkunft unterschiedliche Bedeutungen. Insbesondere öffentliche Auftritte dienten dabei durchweg als Plattformen, um soziale Sichtbarkeit und Rechte geltend zu machen, alternative Formen der Staatsbürgerschaft zu verwirklichen und die Solidarität zwischen den Gemeinschaften zu fördern. Diese Auftritte wurden somit zu einem wichtigen Raum für Verhandlungen über Macht und Zugehörigkeit in syrischen, europäischen, lokalen, städtischen und transnationalen Kontexten.
Die Ergebnisse dieser Forschung wurden in einer 500-seitigen Dissertation präsentiert, die ein umfangreiches Archiv mit Audio- und Videomaterial enthält. Die Dissertation kann in der Bibliothek der mdw eingesehen werden oder durch Kontaktaufnahme mit dem Autor (christidis@mdw.ac.at) angefordert werden.
Projektdurchführung: Ioannis Christidis
Projektbetreuung: Ursula Hemetek
Projektlaufzeit: 1. März 2020 bis 4. Juni 2024
Finanzierung: Österreichischer Wissenschaftsfonds FWF Grant-DOI 10.55776/Z352